I’m broken, but I don’t remember breaking.“ Diesen Satz habe sie, so Nora Dietrich in einem LinkedIn-Post, schon oft von Menschen gehört, die plötzlich nicht mehr gekonnt hätten. Die in Berlin lebende Psychotherapeutin ist Expertin für New Work und Mental Health. Gerade letztere rückt in der modernen Arbeitswelt immer mehr in den Fokus – und das aus gutem Grund. Schließlich gehen weltweit 12 Milliarden Arbeitstage pro Jahr durch psychische Beschwerden verloren. Das schätzt die Weltgesundheitsorganisation in ihrem jüngsten Leitfaden zum Thema „Mental Health at Work“, den sie in Kooperation mit der Internationalen Arbeitsorganisation veröffentlichte.
Doch wie lässt sich psychische Gesundheit am Arbeitsplatz definieren? Laut Dietrich bedeutet es, „die Stressoren und Belastungen gut zu bewältigen und dabei die Gesundheit nicht nur zu erhalten, sondern bestenfalls zu fördern“. Personen könnten also einen Job machen, bei dem unterm Strich eine Null stünde oder eine sinnstiftende Arbeit, bei der sie Wertschätzung und Anerkennung erhielten, sich autonom einbringen dürften und Entscheidungsräume hätten – eben ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. „All das zahlt auf mentale Gesundheit ein.“
Diese ist ein wesentlicher Faktor für zukunftsfähige Organisationen. Trotzdem verspürt jeder dritte Beschäftigte (33 %) täglich extrem hohen psychischen Druck bei der Arbeit. Das ergab eine repräsentative Studie von Headspace. Der Anbieter einer bekannten digitalen Plattform für psychische Gesundheit befragte für seinen „Annual Workforce Attitudes Toward Mental Health Report“, den er im vergangenen Mai veröffentlichte, 103 CEOs und 1009 Beschäftigte in Deutschland. Dabei kam auch heraus, dass der Gedanke an die Arbeit bei 59 Prozent der Teilnehmenden mindestens einmal pro Woche ein starkes Gefühl der Angst auslöst, während fast jeder Fünfte (17 %) sogar täglich damit zu kämpfen hat.
Die Arbeitswelt hält große Herausforderungen bereit
Nun sind mentale Belastungen kein neues Phänomen, kein Symptom, das ausschließlich in der modernen Arbeitswelt auftritt. Die Art und Weise, wie heute gearbeitet wird, hat sich jedoch verändert: „Zum einen arbeiten wir viel verdichteter als früher, zum anderen sehr digital und meist auch kollaborativ“, erklärt die New-Work- und Mental-Health-Expertin. „Außerdem haben wir häufig Zeitdruck und reiben uns an hohen, oft unrealistischen Zielen auf.“ Gepaart mit dem Fachkräftemangel sei das zu viel Arbeit für zu wenige Schultern, wodurch ein immenser Workload entstehe. Hinzu käme ein Gefühl von fehlendem Teamzusammenhalt oder fehlender Unterstützung durch die Führungskräfte. Vom familiären Engagement und eventueller Care-Arbeit ganz zu schweigen. Wenn dann noch die nötigen Regenerationsphasen fehlen, laufen die Batterien wohl oder übel leer.
„Man muss lernen, Strukturen, Teamsysteme und Formate zu schaffen, die mentale Gesundheit fördern.“
– Nora Dietrich, Mental-Health-Expertin
Stellt sich die Frage, was Arbeitgeber tun können, damit es ihren Beschäftigten gut geht. Dietrich zufolge sollte der erste Schritt sein, „im Status quo anzukommen“. Die Mitarbeitenden sollten zunächst einmal gefragt werden, wie es um ihre mentale Gesundheit steht. Dabei gilt es, neben der Work-Life-Balance auch Themen wie Vereinbarkeit, Stressreaktion und Regeneration zu berücksichtigen. Zudem sollten die Unternehmen sich fragen, inwiefern sie zur psychischen Belastung beitragen, was in ihren Prozessen und Strategien zu Kommunikation stressauslösend wirkt. „Ich habe schon häufig beobachtet, dass Organisationen wild irgendwelche Benefits einkaufen, die natürlich gut intendiert und hilfreich sind. Aber alle Gesundheit lässt sich nun einmal nicht kaufen.“ Man müsse vielmehr lernen, Strukturen, Teamsysteme und Formate zu schaffen, die mentale Gesundheit fördern. Organisationen sollten verstehen, dass dieses Thema nicht nur die Personalabteilungen betreffe, sondern dass alle einen Beitrag leisten könnten – von den Mitarbeitenden bis zu den Senior Leadern.
Vertrauensbasierte Führung & psychologische Sicherheit
Dafür braucht es nicht selten eine kulturelle Transformation inklusive einer vertrauensbasierten Führung. „Einen Beschäftigten direkt zu fragen: ‚Wie schlecht geht es Ihnen?‘ schreckt ziemlich ab“, weiß Dietrich. Vertrauen wolle erarbeitet und ein Stück weit gebaut werden. Das Ganze natürlich nur in gewissen Grenzen, die jeder persönlich für sich stecken muss, weil es sich um ein sensibles Thema handelt. „Doch wenn man beispielsweise sagt: ‚Die vergangenen Monate waren wirklich hart, manchmal hatte ich schlaflose Nächte, wie ging es Ihnen damit?‘ kann das den Raum total verändern.“
In dieser psychologischen Sicherheit reagieren Mitarbeitende auch offener, wenn sie etwa auf eine plötzliche Verhaltensveränderung angesprochen werden – die ein typisches Frühwarnsignal für mentale Belastung ist. Es gibt etliche Symptome, die darauf hindeuten können. Der größte Marker sei jedoch, wenn sich das Verhalten einer Person in einem sehr kurzen Zeitraum verändere, sie zum Beispiel stiller als bisher sei, sehr unsicher oder sehr müde wirke. Allerdings sollten Führungskräfte nicht mit der Diagnosebrille durch die Gegend laufen, sondern ihre Beschäftigten so gut kennen, dass sie deren Frühwarnsignale auch als solche deuten könnten.
Das gilt ebenso für die Betroffenen selbst: Sich seine eigenen Stressfaktoren bewusst zu machen, ist ein wichtiger Schritt in Richtung mentaler Gesundheit. Dietrich begegnen häufig Menschen, die im Grunde längst wissen, dass sie unter zu großer psychischer Belastung stehen, und das trotzdem ignorieren. „Ich muss ehrlich zu mir sein und mir auf einer Skala von eins (absolut erschöpft) bis zehn (voller Energie) sagen, wo ich stehe. Nur wenn ich das weiß, kann ich anfangen, etwas zu unternehmen.“
Rituale schaffen & Antreiber kennen
In diesem Zusammenhang spielen Rituale eine wichtige Rolle. Dem Geist tue es gut, sich auf bestimmte Dinge verlassen zu können. Da gebe es beispielsweise die Morgen-, die Pausen- oder die Feierabendroutine, also individuelle Muster, wie man den Job beginnt, beendet und zwischendurch Kraft tankt.
Obendrein kommt es darauf an, seine eigenen inneren Antreiber zu kennen. Ob man etwa eine perfektionistische Ader hat, ob es einem schwer fällt, nach Hilfe zu fragen, Grenzen zu setzen, auch mal nein zu sagen. „Denn das sind Stolpersteine, die im Arbeitsalltag dazu führen, dass die Überlastung steigt.“
Das alles für sich selbst zu reflektieren und gegebenenfalls die entsprechende Unterstützung einzufordern, liegt in der Verantwortung jedes Mitarbeitenden. Dietrich: „Ohnehin ist gute Selbstführung eine Kompetenz, die in der modernen Arbeitswelt immer wichtiger wird“.
Frühwarnsignale – darauf gilt es zu achten Ein einzelnes Symptom ist noch kein Indiz für übermäßige psychische Belastung. Mehrere Veränderungen, die vor allem plötzlich auftreten, können jedoch darauf hindeuten. Zum Beispiel: • erhöhte Müdigkeit • Antriebslosigkeit • Selbstzweifel • verminderte Leistungsfähigkeit • Konzentrationsschwierigkeiten • Grübeln • sozialer Rückzug • Stimmungsschwankungen • aggressives Verhalten |